Esperantoplatz

Der grüne Koffer

Eine Nacht am See | Die Frau aus dem See

Eine Nacht am See | Der Uhu

Eine Nacht am See | All die Jahre

Eine Nacht am See | Ein guter Junge

Esperantoplatz

Ausschnitt:

Sonst sprach ich die Leute nicht so direkt an. Irgendwie hatte ich heute Lust zu labern, vielleicht die Wirkung von diesem Crystal Green, vielleicht machte es mich zum Menschenfreund. Die Leute, die mich in Anspruch nahmen, kannten mich und kamen an den Platz und sprachen mich an. Wir plauderten kurz, dann Übergabe, tschüss. Die Australier waren am nervigsten, die wollten Small Talk machen. Vielleicht war der Esperantoplatz schon in so ’nem Drogen-Reiseführer, bestes Gras und beste Unterhaltung. Für die gab’s einen saftigen Aufschlag und ein wenig extra Neukölln-Proll-Rumgehampel. Wenn sie gar nicht mehr gehen wollten, klingelte mein Samsung-Oldtimer-Telefon, und ich tat so, als wäre der Prinz von Saudi Arabien an der Strippe, aber es war natürlich nur mein Bruder Jannick, der mich von dem Pack erlösen wollte.
[…]
Er kam ein bisschen verpeilt daher, schlurfig, depressiv. Um den Hals gelegt und über der peinlichen, grünen Outdoor-Jacke baumelten diese weißen Kopfhörer, lässig, vielleicht wollte er tatsächlich noch Musik hören oder nur zeigen, dass er sich ein iPhone leisten konnte.
Ich hatte heute noch zu wenig verkauft. Jannick sagt ja immer, du musst das Zeug „aktiv anbieten“. Auch mal das teurere, das ist wie beim Friseur, der dir unbedingt das Shampoo für 15€ andrehen will. Du musst den Kunden ein wenig bequatschen: „Das Haar wird ganz samtig und fällt von selbst, ist zwar teuer, aber hält länger…“ undsoweiterundsofort. Aber eigentlich brauchte unser Produkt keine Werbung, es war echt gut. Und ich konnte mit Leuten labern, kein Problem, auch wenn Jannick manchmal sagte, ich soll nicht zu viel reden.
Aber der Typ in der grünen Jacke sah so in sich versunken aus, völlig ungefährlich. Ein Kumpel hatte mal erzählt, dass Zivilbullen meistens mit festem Schuhwerk rumliefen, also achtete ich vor allem darauf. Der Typ hatte Sneakers an, diese ASICS, die jeder zweite Hipster in Neukölln trug.
Er fummelte an seinem Handy rum, wischte hin und her, gab’s ein Match? Ich machte einen Schritt, „Eine Frage…“, der Typ schaute auf, glasige Augen, der hatte gekifft, bestimmt. Ich schnippste mit meinem Feuerzeug, trotzdem fragte er, ob ich Feuer bräuchte.
[…]
Ich meinte, dass kiffen ja eigentlich schlecht wäre, gesundheitsschädlich, er zuckte die Schultern, meinte, solange man nicht zu viel… Eine Freundin von ihm würde 6 Joints am Tag rauchen. Ich übertrieb und meinte, bei mir wären’s 17, das Zeug läge ja bei uns überall rum, das war einfach zu viel, die Leute, die sich das Zeug portionsweise kauften, hätten es bestimmt einfacher, die könnten es sich einteilen.
Ich hoffte, er war kein Polizist. Ich sagte, „Hoffentlich bist du kein Polizist und nimmst das hier alles auf.“ Er sagte, „wegen der grünen Jacke?“ Aber er sah aus wie ein Hipster, wie sie hier alle rumlaufen. Das war keiner dieser besoffenen Touristen, die idiotische Fragen stellten, das machte schon Sinn.
[…]
Er stand da und sah zu, wie das Chaos losbrach, ich wollte rennen, aber mein Gehirn war zu langsam. 17 Joints, was hatte ich alles gesagt? Irgendwas verraten? Die zwei vermummten Männer waren soviel schneller als ich, oder lief ich ihnen in die Arme, es waren so viele. Ich fiel hin und es klickte, sie waren routiniert, sie hatten keine Azubis geschickt. Wenn schon, dann von Profis festgenommen werden. Sie würden nichts finden, alles war gut versteckt, natürlich nur, wenn keiner etwas verrät, das weiß man eigentlich nie, aber die meisten gehörten sowieso zur Familie. Ich war gelöst, wie beim letzten Mal, ich kannte das schon, diese verdammte Anspannung die ganze Zeit, auf dem Platz stehen, Leute abchecken, Zeug loswerden. Jetzt war es erst mal vorbei, eine Auszeit, Ferien, wenigstens bis morgen. Dann später, irgendwann Blumenbeete umgraben, auch nicht so schlimm. Bekifft lässt sich alles aushalten: Druck , harte Arbeit, Erniedrigung.
Hoffentlich kriegten sie Jannick nicht, das wäre blöd. Scheißbullen. Festes Schuhwerk, wer hatte sich diesen Quatsch ausgedacht.
[…]

Der grüne Koffer

Ausschnitt:

In der Ecke stand noch ihr grasgrüner Koffer. Unpraktisch, hatte er ihr immer gesagt, keine Rollen, Eigengewicht zwei Kilo, aus dickem Leder mit einem abgewetzten Tragegriff. Aber sie mochte ihn, er war modisch und sie wurde darauf angesprochen. Jetzt hatte sie ihn dagelassen. Hatte lieber den kompakten, modernen Koffer mit gleich vier Rollen genommen, Handgepäck mit dem man direkt durchmarschieren kann vom Check-In, über Sicherheitskontrolle bis zum Gate. Und dann bei der Ankunft das Gleiche: Man musste nicht warten.
Es hatte alles in einen Koffer gepasst. Sie hatte alles bei sich: Die Zusatzzahnbürsten, Gels und Shampoos brauchte sie wohl nicht, dort wo sie jetzt war.
Sie war schnell aus dem Haus gewesen, nach dem Sex, den sie immer hatten, wenn der Abschied bevorstand. Fernbeziehungsrituale. Er wußte nicht, ob es etwas zu bedeuten hatte, dass sie dieses Mal unbedingt oben sein wollte, ihm hatte es gefallen, aber als er versuchte eine andere Position einzunehmen, lachte sie, bewegte sich schneller und er kam. Sie umarmten sich, der Schweiß ließ die Hände über die Haut rutschen, kein Streicheln eher eine Neuverteilung von Körperflüssigkeiten. Sie klebten aufeinander, er spürte ihre Wärme. Und ihre Nervosität, nur noch drei Stunden bis zum Abflug des Fliegers nach San Sebastian.
[…]
Er ging mit seinem Bruder trinken, das Telefon im Blick, aber es war wieder nur Plastik, Glas und ein paar Schaltkreise und nicht ihre dunkle, besorgte Stimme, Heiterkeit und Ruhe.
Nachdem Victor mit einer blonden Irin abgezogen war, eine Kombination, die das Gespräch erst in Gang und die beiden schließlich auf Touren gebracht hatte, trank er noch einen Whiskey an der Bar, so wie man das eben machte, wenn man auf die Frau wartete und nicht wusste, wann sie kommen würde, aber man wüsste, sie würde kommen, nur müsse man eben warten und bis dahin ein paar Gläser Whiskey trinken, denn das wäre die adäquate Pausenbeschäftigung, die wie in der Flughafensprache gebrauchte „Parking Position“, die man von ihm erwartete.
Er fuhr sich durch’s Haar, kratzte sich am Bart, eigentlich musste er ab, aber er traute sich nicht, bevor Lydia nicht zurück war, er es mit ihr abgesprochen hatte. Sie konnte auf so etwas manchmal etwas unleidig reagieren.
Er trank den Whiskey, dachte an seinen Bruder und die blonde Irin, freute sich für ihn, er hatte darauf keine Lust mehr, irgendwelche Frauen abschleppen, auch wenn das alle in seinem Alter so machten, kaum jemand hatte eine feste Beziehung. Alles kam und ging, man vögelte sich durch die Stadt, sprach sich in Bars an oder benutzte Apps. Es war Wirtschaftskrise, da war auch schon wieder alles egal, die Welt ging unter, wenigstens noch einmal guten Sex haben.
[…]
Sie schrie zurück und so schrien sie beide, draußen brach ein herrlicher Sommertag an, sie schrien, die Fenster standen offen, die Vögel schrien mit, sie verstanden nicht, dass hier gerade etwas auseinanderbrach, sie zwitscherten und glaubten, dieses seltsame Menschenkind wolle mitmachen in ihrer Freude über die Wärme, die endlich ausbrechende Hitze, endlich nicht mehr die Federn aufplustern und sich gegenseitig wärmen, sondern frei umherschwirren. Aber Mario wollte nicht mitmachen, einfach nicht mehr mitmachen, nicht fliegen, nicht brüllen, nicht warten. Denn Lydia sagte, gut, dann ist es eben jetzt vorbei und Mario biss die Zähne zusammen und sein Herz, konnte sich nicht bewegen, das Zimmer war ganz nah an ihm, er hätte es überall berühren können. Die alte Heizung mit ihrem Pulli, der schon längst getrocknet war, das Bad mit ihrer Kräuter-Zahnpasta und Cremes, die Wohnungstür, an der noch ihre Regenjacke hing. Die brauchte sie in Spanien natürlich nicht, dort regnete es nie, zumindest nicht jetzt.
Er spürte plötzlich das Gewicht seines linken Arms, seiner Hand, die das Telefon hielt. Das Zimmer um ihn herum, sehr nah, er war beherrscht, Atemtechnik, das musste doch zu schaffen sein, dieser blöden Person am anderen Ende, die er liebte und vermisste, die Stirn zu bieten. Endlich auflegen. Er sagte „Ciao!“, irgendwie tonlos, es kam von irgendwo her, aus seiner Leber vielleicht oder seinem linken Fuß, es war irgendwoher gekommen, das war nicht er, dann griff er mit seiner rechten Hand, die das Telefon nicht hielt, zu seiner linken Hand, die das Telefon hielt und zog es von seinem Ohr herunter, drückte auf den roten Kreis. Die Verbindung war unterbrochen.
[…]

Eine Nacht am See | Die Frau aus dem See

Ausschnitt:

Anfangs war es die Aprilkälte, die vom See ins Zelt schwappte und sie rückten näher zusammen, als es eigentlich notwendig gewesen wäre. Sie roch gut, sie kannten sich schon seit einer Ewigkeit und er stellte sich vor, wie es wohl wäre, als sie ihn einfach fragte.
Sie drehte sich auf die Seite, mit dem Rücken zu ihm, zog Pyjamahose und Slip nach unten weg, er schob sich an sie heran, umfasste ihre Brüste. Keine Küsse, es war eine wortlose Übung.
Es wurde Gewohnheit. Sie tranken Wein, und wenn sie dann nicht zu betrunken waren, strich sie ihm mit dem Zeigefinger vorsichtig von Schläfe zu Wange, drehte sich auf die Seite und sie schliefen miteinander.
Ihr Vater lag auf der Intensivstation. Sie hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten. In jeder Silbe ihrer Mutter die triefende Verzweiflung und die schrillen Klagen, selbst wenn es nur darum ging, Milch zu holen. Lara hatte Jonas gefragt, ob er mit ihr wegfahren möchte. Er hatte Urlaub genommen und schon am nächsten Tag waren sie los.
Eigentlich hatte Jonas keinen Grund sich zu betrinken. Alles war in Ordnung, sein Leben plätscherte vor sich hin, wie das Seewasser, das gierig vom kühlen Sand vor ihrem Zelt aufgesogen wurde.
[…]

Eine Nacht am See | Der Uhu

Ausschnitt:

Lediglich im Glitzern der feinen Wellen in der Mitte des Sees, wo der Wind zustieß, zerbrach die Nacht. Er hielt ihre weiche Hand, sie sahen fast nichts, über ihnen die Zweige der Kiefern, trocken, duftend, das Wäldchen reichte bis fast ans Ufer.
Wie von der Bäckersfrau versprochen war es hier weniger stickig, als in der kurzfristig gemieteten Ferienwohnung im Dorf, wo sie es wegen der Hitze kaum ausgehalten hatten.
Die ziemlich dicke Frau hatte ihnen die Croissants über die Theke gereicht, er machte einen harmlosen Witz, woraufhin sie unheimlich laut und lange gelacht hatte. Fabian glaubte zu sehen, wie sich der Schweiß von ihren ausgebeulten Wangen löste und die großen Tropfen wie Asteroiden überall im Laden einschlugen. Ihre Fröhlichkeit erhöhte die Temperatur im Raum zusätzlich. Sie freute sich auf das Ende der Spätschicht. Wie jeden Abend würde sie dann einen Ausflug in das Kiefernwäldchen am See machen, zu einer nur schwer zugänglichen Lichtung. Dort war es kühl und man hatte seine Ruhe. Als Fabian erwähnte, dass heute ihr letzter Urlaubstag war, beschrieb sie ihnen den Weg und verzichtete später selbst dorthin zu gehen.
[…]

Eine Nacht am See | All die Jahre

Ausschnitt:

Bei jedem Auftreten drangen Hunderte heiße Nadeln in ihr Knie, ließen es zerstoßen und wimmernd zurück. Erst nächste Woche, zurück in Maine, war die Operation. Sie war wehrlos. Olaf, der entfernte Verwandte, erzählte Charles und ihr etwas von dem See, der hinter der nächsten Düne lag, von seiner Jugend, geräuchertem Fisch, ausschweifenden Partys am Strand im Sommer. Letzteres wohl nur noch selten, er war ein Familienmensch geworden. Linda blickte starr geradeaus, nickte, lächelte freundlich. Sie fürchtete, dass der Gehstock unter ihrem Gewicht zerbräche, was natürlich nicht passieren würde, das war keine Nordic-Walking-Rentnerkrücke aus dem Supermarkt, sondern eine Maßanfertigung aus Karbon, mit der man sogar die Alpen überqueren könnte.
Olafs Golden Retriever wirbelte Herbstlaub auf, preschte an ihr vorbei, erklomm die Düne und verschwand. Trotz Charles‘ umfangreicher Recherchen hatten sie ihre drei Labradore zu Hause lassen müssen, der Transport hierher wäre zu kompliziert gewesen. Aber Olafs Golden Retriever ließ Charles vergessen. Ununterbrochen warf er Dinge in die Landschaft, die der Hund apportieren sollte: Bälle und Stöcke, aber am liebsten den zerfledderten Plüschhasen, den Olaf dem Hund wohl zum Geburtstag geschenkt hatte.
Linda wollte nicht auf die Düne. Aber Charles und Olaf waren schon oben und bewunderten die Aussicht. Sie rieten ihr, den Stock zu Hilfe zu nehmen. Der Schal, den sie sich über den Mund gelegt hatte, war nassgeschwitzt, unter der Mütze juckte ihre Kopfhaut. Das Licht der Abendsonne verschob sich von Orangerot zu mattem Blau.
[…]

Eine Nacht am See | Ein guter Junge

Ausschnitt:

Seine wuscheligen Haare verschwanden zwischen ihren Schenkeln, als sie ein helles Schreien hörte. Er leckte, küsste, zog, aber sie spürte nichts, sie langweilte sich, auf dem Rücken liegend, die Beine aufgestellt wie beim Arzt. Spürte weniger Ekstase als Langeweile und routinierten Schmerz. Ihr war kalt, das kleine, aber teure Zelt doch nicht für solche Abenteuer und wilde Akrobatik gemacht. Sven roch außerdem ziemlich penetrant nach Schweiß. Im Büro fand sie das noch anziehend und hatte ihn herausgefordert, mit ihr ein Abenteuerwochenende am See zu verbringen. Im Januar, in einem ultramodernen Klimazelt, der Verkäufer hatte behauptet, es wäre fast so wie zu Hause vor dem Kamin zu sitzen, und Sven war natürlich mitgekommen. Wenn die Chefin der aufstrebenden Firma etwas von dir verlangt, dann stellt man keine Fragen. In ihrer Branche funktionierte das noch. Und sie war attraktiv, für ihr Alter, das war wahrscheinlich ausschlaggebend, so glaubte sie zumindest. Sie hörte ein weiteres Jammern. Sven konnte es nicht sein, er war vollauf mit dem Versuch beschäftigt, sie auszusaugen. Als er anfing sie zu beißen, legte sie ihren Fuß auf sein hübsches Gesicht, schob ihn zur Seite, schwang ihr Bein über ihn hinweg. Ende der Vorstellung. Die Hose hing noch an ihren Füßen, sie zog sie hoch, schnappte sich Schuhe und Jacke, flüchtete. Die kalte Luft verbiss sich in ihrer Lunge, ließ sie husten, es fühlte sich gut an. Sven sagte etwas, sie wechselte vom hartgefrorenen Sandstrand auf die mit Pulverschnee geschmückte Eisfläche des Sees. Die Schreie wurde lauter und sie ging schneller, obwohl ihr Schoß wund war von Svens vergeblichen Bemühungen. Sie steuerte in Richtung der schwachen, orange-farbenen Lichter am gegenüberliegenden Ufer. Klein waren sie, die Häuser, niedrig, aneinandergedrängt, als wollten sie sich gegenseitig aufwärmen.
[…]